05.11.2025
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat die Triage-Regelungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) für nichtig erklärt. Der Grund: Für die konkreten Regelungen sei der Bund nicht zuständig.
Fachärzte im Bereich der Notfall- und Intensivmedizin, die sich in ihrer Berufsfreiheit verletzt sehen, hatten Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen den neu eingeführten § 5c IfSG eingelegt. Darin regelt der Bundesgesetzgeber unter anderem, anhand welcher materieller Kriterien eine Entscheidung über die Zuteilung überlebenswichtiger intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten bei nicht ausreichenden Ressourcen – also im Fall einer so genannten Triage – zu treffen ist, soweit dieser Knappheitsfall durch eine übertragbare Krankheit jedenfalls mitverursacht ist.
Die Verfassungsbeschwerden hatten Erfolg.
§ 5c IfSG greife in den Schutzbereich der Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz – GG) ein, so das BVerfG. Artikel 12 Absatz 1 GG gewährleiste, dass Ärzte in ihrer beruflichen Tätigkeit frei von fachlichen Weisungen sind, und schütze – im Rahmen therapeutischer Verantwortung – auch ihre Entscheidung über das "Ob" und "Wie" einer Heilbehandlung. Die Regelungen des § 5c Absätze 1 bis 3 IfSG schränkten die Therapiefreiheit ein und beeinträchtigten damit die Berufsausübungsfreiheit.
Der Eingriff sei verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt: Es fehle bereits an der formellen Verfassungsmäßigkeit. Es bestehe keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die angegriffenen Regelungen des § 5c Absätze 1 bis 3 IfSG.
Der Bund könne sich hinsichtlich der konkreten Normen nicht auf die Kompetenz zur Regelung von Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten nach Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 Var. 1 GG ("Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren") stützen. Dieser Kompetenztitel biete keine Grundlage für ein reines Pandemiefolgenrecht. Voraussetzung sei vielmehr eine gewisse, auf Eindämmung oder Vorbeugung bezogene Gerichtetheit der Maßnahme.
Schon der Wortlaut des Kompetenztitels spreche dafür, so das BVerfG, dass es für die Anwendbarkeit nicht genügt, wenn eine Regelung lediglich an die Auswirkungen einer Pandemie anknüpft, ohne dass sie der Eindämmung oder Vorbeugung der übertragbaren Krankheit als solcher dient. Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG spreche von Maßnahmen "gegen" übertragbare Krankheiten "bei" Menschen. Er bringe damit zum Ausdruck, dass sich die Kompetenz auf Regelungen bezieht, die dazu dienen, im Bundesgebiet auftretende übertragbare Krankheiten als solche einzudämmen.
Bei den Regelungen des § 5c IfSG handele es sich auch nicht um eine "Maßnahme" im Sinne des Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG. Nach ihrer konkreten Konzeption stellten die Regelungen kein Instrument der Vorbeugung oder der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dar. Sie minderten Infektionsrisiken nicht, sondern sagten nur aus, wie ein Arzt Patienten bei nicht ausreichenden intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten priorisieren muss. § 5c IfSG treffe im Schwerpunkt also Regelungen dazu, "wer" behandelt werden darf, nicht jedoch zum "Wie" der Behandlung. Diese Regelungen knüpften als reines Pandemiefolgenrecht also an eine Knappheit infolge einer Pandemie an, dienten aber nicht der Pandemiebekämpfung. So nenne auch der Normtext selbst als Zweck der Regelungen den Schutz vor Diskriminierung und die Rechtssicherheit für die handelnden Ärzte.
Da die Triage-Regelungen für die Vorbeugung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten nicht unerlässlich sind, kann laut BVerfG auch nicht auf eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs oder eine Annexkompetenz abgestellt werden.
§ 5c Absätze 1 bis 3 IfSG ließen sich auch nicht unter den Titel konkurrierender Gesetzgebung der öffentlichen Fürsorge fassen. Dieser trete hinter Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19, Nr. 19a GG als speziellerer Kompetenztitel zurück.
Zwar enthielten die Regelungen des § 5c IfSG fürsorgerische Elemente, soweit sie dem Schutz von Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung zu dienen bestimmt sind. Für das BVerfG sprechen aber systematische Erwägungen gegen eine Eröffnung des Anwendungsbereichs des Kompetenztitels. § 5c IfSG sei eine dem Gesundheitswesen zugehörige Norm, es fehle ihr an einem primär fürsorgerechtlichen Charakter. Wenngleich die Norm auch antidiskriminierungsrechtliche Ziele verfolge, regele sie als Allokationsvorschrift die medizinische Behandlungsreihenfolge im Fall einer Triageund damit im Kern ärztliche Berufsausübung und krankenhausrechtliche Verfahrenspflichten. Die Entscheidung der Verfassung, dem Bund für das Gesundheitswesen nur auf einzelne Sachbereiche beschränkte Gesetzgebungskompetenzen zuzuweisen, dürfe nicht durch eine erweiternde Auslegung der Gesetzgebungskompetenz für die öffentliche Fürsorge unterlaufen werden.
Die angegriffenen Regelungen seien auch weder Teil des bürgerlichen Rechts noch des Strafrechts und würden daher auch nicht von den entsprechenden Gesetzgebungstiteln erfasst.
Eine Bundeskompetenz komme auch nicht kraft Natur der Sache in Betracht. Allokationsregelungen erforderten im Pandemiefall nicht notwendigerweise eine gesamtstaatliche Regelung. Dass allein der Bund zur effektiven Beherrschung der Diskriminierungsrisiken in einer Triage-Situation in der Lage wäre, insbesondere weil den Ländern die dahingehende Handlungsfähigkeit fehlte, sieht das BVerfG nicht. Der Umstand, dass in Fällen einer pandemischen Lage von nationaler Tragweite eine bundeseinheitliche Regelung zweckmäßiger sein könnte als eine Selbstkoordinierung der Länder, genüge für die Annahme einer Kompetenz kraft Natur der Sache nicht. Nach der aktuellen Kompetenzverteilung des GG trügen die Länder maßgeblich die Verantwortung für diskriminierungssensible Allokationsregeln im Sinne reiner Pandemiefolgenregelungen, die auch länderübergreifend tragfähige Entscheidungen ermöglichen müssen.
Abschließend führt das BVerfG aus, dass die Unvereinbarkeit des § 5c Absätze 1 bis 3 IfSG mit Artikel 12 Absatz 1 GG zur Nichtigkeit dieser Regelungen führe. Die Nichtigkeitserklärung sei auf § 5c Absätze 4 bis 7 IfSG zu erstrecken, weil diese Regelungen mit der gesetzlich definierten Zuteilungsentscheidung und den hierfür vorgesehenen materiellen Kriterien in unlösbarem Zusammenhang stünden und einzig aus ihr ihre Rechtfertigung bezögen.
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 23.09.2025, 1 BvR 2284/23, 1 BvR 2285/23